Frankfurter Allgemeine Heft 83 / Oktober 1981 - BMW Isetta
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Frankfurter Allgemeine Heft 83 / Oktober 1981 - BMW Isetta

Titelbild: Autos von gestern, die morgen wieder aktuell werden könnten: Unter den Kleinwagen war die BMW Isetta einer der größten

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Original Inhaltsbeschreibung:

  • Über Leute
  • Vittorio Gassmann: Ein Schauspieler, weil er sein Gesicht nicht leiden kann Heinz-Joachim Fischer Foto Gerd van Rijn
  • Kabinenroller: Kleinkunst auf Rädern Rolf Heggen, Illustrationen Margret Schultz
  • Marcel Proust: Dichter einer Kindheit Volker Hage, Fotos Klaus Bossemeyer
  • Fragebogen: Nikolaus Hamoncourt
  • Kalender der Woche
  • Schach Roswin Finkenzeller
  • Matchbox: Kreuzwort, Ortstermin, Streichholzspiel
  • Titel Margret Schultz

Madeleine oder Die Liebe zur Literatur

Auf der Suche nach dem Bildungserlebnis sein berühmtes Werk einfach zu lesen, ist die eine Möglichkeit der Annäherung an Marcel Proust. Feinschmecker und Teetrinker mögen es aber we-niger schlicht, sie nähern sich dem Genius lieber ä la maniere de gourmandise. Die Wahl einiger Madeleines zum Tee wird ihnen, als Geschmack auf der Zunge gleichsam, jene Atmosphäre wiedererlebter Kindheit evozieren, von der am Beispiel Prousts schon vorigen Freitag anschaulich die Rede war und die dieses Heft nochmals beschäftigen soll. Madeleine ist im Französischen nicht nur ein klangvoller Vorname. Das Wort meint, je nach dem Stamm, in dessen Nähe es gefallen ist, mal den frühen Apfel oder Pfirsich, mal die frühe Birne oder Pflaume. Und es meint eben auch jenes süß und zartbröselig schmeckende Sandtörtchen, das Proust beschrieben hat als „kleine Muschel aus Kuchenteig, die so behäbig und sinnenfroh wirkt un-ter ihrem strengen, frommen Fal-tenkleid". Proust hat das erlesene Gebäck, das er im Illiers seiner Kindheit genoß, berühmt gemacht; erfunden wurde es natürlich woanders und von anderen, ein Dichter ist schließlich kein Bäcker. Wie bei vielen königlichen Gerichten, so wetteifern auch bei den Madeleines von Commercy, wie die Törtchen backkorrekt heißen, gleich mehrere Legenden um die historische Wahrheit der Entstehung. Nachdem er 1738 Herzog von Lothringen geworden war, soll der ehemalige König Stanislaus von Polen zum ersten Mal mit den Madeleines von einer alten Hofköchin verwöhnt worden sein, die in der Sommerresidenz von Commercy für sein leibliches Wohl verantwortlich war. Dieser Version bietet eine andere Widerpart, die zu wissen glaubt, daß die ersten Madeleines weit vor der Zeit des Stanislaus in Commercy von einer Köchin namens Madeleine Paulmier erfunden wurden. So unentschieden wie die Legenden, so unentschieden die Rezepte. Allen gemeinsam ist das Prinzip, Eier in einer Schüssel schaumig zu schlagen und unter vorsichtiger Zugabe von Zucker, zerlassener Butter und Mehl zum Teig anzurühren, der dann in die eingefetteten Muschelförmchen gefüllt wird. In Commercy gilt das Gläschen Rum im Teig als Geschmackskrönung, in Wien hält man es lieber mit dem Vanillezukker zum Drüberstäuben, und nach Pariser Art gehören abgezogene, feingeriebene Mandeln in den Teig. Wer eher auf oberflächlichen Glanz aus ist, mag seine Madeleines sogar glasieren und ihnen so ein bißchen Zitronengeschmack beigeben. Wie auch immer, ehrfürchtig zum Munde führen und an Proust denken, ist Ehrensache — bevor die Erinnerung an die verlorene Zeit sich mit dem letzten Bissen verkrümelt.

Udo Pini

Heft Nr. 83 / vom 2 Oktober 1981

Seitenanzahl: 31 Seiten

FAM-DE.1981.nr.83

Eigenschaften von diesem Artikel

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